Nachruf auf Prof. Dr. Klaus Kanzog
04.01.2025
Prof. Dr. Klaus Kanzog
23.11.1926 in Berlin – 4.1.2025 in München
Am 4. Januar 2025 verstarb Prof. Dr. Klaus Kanzog im 99. Lebensjahr. Als akademischer Lehrer genoss Kanzog bei seinen Studierenden und Absolvierenden hohes Ansehen. Das lag an seiner engagierten Art, die die Studierenden stets als gewinnbringende wissenschaftliche Kommunikationspartner einband. Bis zuletzt hielt Kanzog mit einer Vielzahl seiner ehemaligen Absolventinnen und Absolventen brieflichen oder persönlichen Kontakt. Begründet war dies darin, dass Kanzogs heitere Zugewandtheit die professionelle Distanz des Professors überwinden half; da kam dann oft der gebürtige Berliner durch, der sich im bayrischen Ambiente wohlfühlte. Auch im Kollegium war Kanzog ein geschätzter Gesprächspartner mit anerkannten wissenschaftlichen Meriten.
Prägend für Klaus Kanzogs Berliner Jugend waren die Bekennende Kirche und die letzten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs, in dem er als Luftwaffenhelfer und bei der Marine als Artilleriefunker dienen musste. Das Studium der Germanistik, Älteren Nordistik und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin schloss Kanzog mit der Promotion 1951 ab. Seine akademischen Lehrer waren u.a. Wilhelm Wissmann und Werner Simon; an der Freien Universität Berlin hörte er u.a. Helmut de Boor.
Anschließend schlug Kanzog die Laufbahn eines wissenschaftlichen Bibliothekars an der FU ein, die ihn auch an die Bibliothèque Nationale, Paris, führte und eine Fortbildung auf dem Gebiet der Handschriften- und Inkunabelkunde einschloss. 1955 wurde Kanzog an der FU-Universitätsbibliothek Fachreferent für Germanistik; auch wurde ihm die Leitung der Lesesäle übertragen; zudem war er in der Ausbildung der angehenden Bibliothekare tätig. 1958 wurde er dann zum Bibliotheksrat ernannt.
Nach Abschluss dieser ersten Aufbauphase der Universitätsbibliothek der FU Berlin drängte es Kanzog, sich stärker der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zu widmen. Auf Vermittlung des Mediävisten Hugo Kuhn, der seit 1954 in München lehrte, wurde Kanzog 1964 für eine Lehrtätigkeit am Seminar (später: Institut) für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München gewonnen. Ein DFG-Stipendium aufgrund eines Antrags von Walter Müller-Seidel und Hugo Kuhn ermöglichte Kanzog die Fertigstellung seiner editionsphilologischen Habilitationsschrift. Die venia legendi wurde ihm von der Philosophischen Fakultät II der LMU 1972 erteilt; die Ernennung zum Wissenschaftlichen Rat und Professor erfolgte 1976; seit 1978 war er Extra-Ordinarius. 1992 wurde Kanzog pensioniert.
Der wissenschaftliche Fokus Kanzogs lag gemäß seiner Ausbildung zunächst auf der Editionsphilologie, wovon seine Habilitationsschrift Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists (1967/70) zeugt. Zuvor bereits arbeitete Kanzog seit 1954 redaktionell bei der von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr herausgegebenen Zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte mit, die er ab dem vierten Band 1984 zusammen mit Achim Masser lexikographisch selbst verantwortete. Und hier zeigte sich auch sein philologisches Credo besonders deutlich: keine wissenschaftliche Publikation ohne (Personen- und) Sachregister! So ist das Sachregister zum Reallexikon so umfangreich wie die Beiträge von A bis F des ersten Bands.
Mit seinem Grundlagenwerk Erzählstrategie: Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens (1976) wandte sich Kanzog dann auch einem erweiterten Textbegriff zu, indem er u.a. die Hörspielfigur Pumuckl von Ellis Kaut in die Narratologie einführte und seine Leitbegriffe ›Strategie‹, ›Norm‹, ›Struktur‹, ›Instanz‹ und ›Affekt‹ begründete.
Mit dem in der Erzählstrategie dokumentierten erweiterten ›Text‹-Begriff war es dann nicht weit bis zum Einbezug des Films in die philologische Reflexion, nachdem sich der literaturwissenschaftliche Diskurs international seit den 1960er-Jahren intensiver mit dem Bewegtbildmedium beschäftigte: zunächst unter dem ebenso verbindenden wie absichernden Begriff der ›Literaturverfilmung‹. Zur Dokumentation eines analogen theoretischen Zugangs führte Kanzog 1977 den Begriff der ›Filmphilologie‹ in die Wissenschaftsgeschichte ein. Die Firma ARRI, Münchner Hersteller von Kamera- und Filmequipment, sowie das Münchner Filmmuseum unter der Leitung von Enno Patalas konnten als Partner gewonnen werden. Kanzogs Engagement für die Filmphilologie stieß im Institut nicht sogleich auf Gegenliebe, doch fand dieses Arbeitsfeld im Lauf der Zeit als ›Studienschwerpunkt‹ auch institutionelle Anerkennung, nachdem die ab 1976 angebotenen Filmseminare bei den Studierenden auf großes Interesse stießen. Zahlreiche filmphilologische Abschlussarbeiten – Magisterarbeiten wie Dissertationen – dokumentieren diesen Erfolg, der sich auch 1986 in der Gründung des diskurs film Verlags aus dem Kreise der Doktoranden widerspiegelte. Kanzogs wichtigste filmphilologischen Werke wurden dort veröffentlicht. Dieses Publikationsforum führte zur internationalen Beachtung der Münchner Filmphilologie.
Kleist sowie E.T.A. Hoffmann waren für Kanzog auf Autorenseite lebenslang Spezialgebiete innerhalb der deutschen Literaturgeschichte, Sturm und Drang, Klassik, Romantik sowie Expressionismus auf Epochenseite. Im Alter fand Kanzog wieder zu seinem literarischen Lebensthema Kleist zurück.
Klaus Kanzogs publizistisches Œuvre ist extrem umfangreich und vielschichtig, sein letztes Werk wurde erst zwei Monate vor seinem Tod (vordatiert auf 2025) veröffentlicht. Kanzog war das, was man mit der Bezeichnung ›Gelehrter‹ nur unzureichend beschreiben kann. Er sprudelte bis zuletzt vor Wissen, das stets seine Disziplinen Bibliothekswissenschaft, Editionsphilologie, Lexikographie, Narratologie und Filmphilologie im Fokus hatte. Mit Kanzogs Tod geht unendlich viel anschauliches Wissen verloren. Doch sein wissenschaftliches Erbe wird sicherlich noch so manch zukünftige Forschungen befruchten.
Im persönlichen Gespräch ergänzte Kanzog dank eines phänomenalen Gedächtnisses sein Wissen mit autobiographischen Erfahrungen; und immer wieder bezog er sich auf ›Ratschläge‹ und Kommentare seiner beiden vorzeitig verstorbenen Ehefrauen Eva und Dorothea. Nun ist er mit beiden wiedervereint.
Dr. Michael Schaudig
(Promovend bei Kanzog 1992, ehem. Verleger und redaktioneller Herausgeber diskurs film Verlag)
Dr. Bernhard Springer
(Promovend bei Kanzog 1987)
Klaus Kanzog als »Ganztagswallenstein«
2007; 70 x 100 cm, Acryl & Sprühlack auf Leinwand